Rochdale Barracks Bielefeld: Wie aus einer Kaserne ein Möglichkeitsraum für Kultur wird
Kultur braucht Raum. In Städten wie Frankfurt, Kassel oder Darmstadt ist das längst ein Dauerthema. Zwischen steigenden Mieten, planerischem Spardruck und Flächennutzungskonflikten suchen Kreative nach Orten für Begegnung, Produktion, Präsentation.
Ein Blick nach Bielefeld zeigt: Auch in Nordrhein-Westfalen ist das nicht anders – aber hier macht man aus der Not eine Strategie. Mit der Zwischennutzung der ehemaligen Rochdale Barracks entsteht ein Raumexperiment, das Kultur, Quartiersentwicklung und kreative Stadtproduktion auf bemerkenswerte Weise zusammenbringt.
Die Kaserne als Kulturkatalysator
Die Rochdale Barracks, benannt nach der gleichnamigen britischen Stadt, sind eine der zahlreichen ehemaligen Militärliegenschaften in Deutschland. Seit dem Abzug der britischen Armee im Jahr 2020 liegt das Areal mit seinen 25 Gebäuden auf 9 Hektar brach – mitten in der Stadt, nur 2 km vom Zentrum entfernt, bestens erreichbar durch eine Stadtbahnhaltestelle vor der Tür.
Statt auf schnelles Verwerten oder versiegeln zu setzen, entschied sich die Stadt Bielefeld für einen anderen Weg: gemeinsam mit der Zivilgesellschaft, iterativ und experimentell, offen für Kultur, Nachbarschaft und neue Allianzen.
Transurban Residency: Kunst kommt in die Fläche
Ein Meilenstein auf diesem Weg war der Sommer 2022 – und der Startschuss kam aus der Kunstszene. Das wandernde Kultur- und Residenzformat Transurban Residency suchte neue Orte für künstlerische Interventionen in NRW. Die Idee: Leerstände und Stadtränder in produktive kulturelle Möglichkeitsräume verwandeln.
In Bielefeld passte alles: Fläche, Vision, Partner. Und so wurde das Gelände der Rochdale Barracks zur Bühne für Workshops, künstlerische Bauten, eine Nähwerkstatt, Performances und soziale Formate – unter aktiver Beteiligung der Nachbarschaft.
Zum ersten Mal nach 70 Jahren war die Fläche öffentlich zugänglich. Die doppelten Kasernenzäune öffneten sich für die Stadtgesellschaft – und damit für Ideen, Geschichten und Perspektiven.
Stadt und Kultur im Schulterschluss
Doch anders als in vielen anderen Städten blieb es in Bielefeld nicht beim einmaligen Kunstereignis. Unterstützt durch die AAA GmbH und gefördert im Rahmen der Regionale 2022, entwickelte die Stadt einen organisatorischen Rahmen für weitere Zwischennutzung.
Seitdem wird ein 3,5 Hektar großer Teil der Fläche jährlich von der Stadt Bielefeld von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) angemietet. Die Stadt übernimmt Infrastruktur, Sicherheit, Pflege und Öffentlichkeitsarbeit – und stellt die Fläche temporär für kreative, nachbarschaftliche und kulturelle Nutzung zur Verfügung.
Kulturformate als Teil urbaner Entwicklung
Was dort inzwischen entsteht, ist bemerkenswert:
- Theater, Kino und Möbelbau-Workshops
- Partys, Tanz, urbane Sportformate (Skaten, Basketball, Pumptrack)
- Nachbarschaftsfeste, Flohmärkte und ein mehrtägiges Afro-Festival mit tausenden Gästen
- Erprobung neuer Raumformate – etwa einer Quartierskantine als Ort für gemeinsames Kochen, Vernetzen und Kulturarbeit
💡 Für Kulturakteur:innen ist das mehr als ein "nettes Stadtteilfest“: Es ist ein Testfeld für neue Kulturorte, jenseits klassischer Spielstätten.

Gebäudenutzung: Der nächste Schritt
2025 geht Bielefeld weiter:
- Eine ehemalige Werkstatthalle (3.000 m²) wird zur temporären Sport- und Bewegungsfläche, offen auch für kreative Nutzungen
- Die ehemalige Kantine wird zum Nachbarschaftszentrum mit Veranstaltungsraum, Küche und Co-Working-Optionen – perspektivisch mit Quartiersmanagement
- Die grüne Westseite des Geländes wird zu einem Erholungsraum mit Potenzial für Open-Air-Kultur und urbane Gartenformate
Aktuell liegt der Fokus noch auf Sicherheit und Zugänglichkeit – die Stadt arbeitet mit Veranstaltungen und Haftungserklärungen, während Nutzungsstrukturen Schritt für Schritt aufgebaut werden.
Was Kreativakteur:innen daraus lernen können
Bielefeld zeigt: Zwischennutzung ist nicht nur Übergang, sondern urbaner Möglichkeitsraum. Besonders für die Kultur- und Kreativwirtschaft ergeben sich daraus Chancen:
✅ Neue Räume für freie Formate
Wo Ateliers, Werkstätten oder Bühnen fehlen, können Areale wie Rochdale Barracks temporäre Infrastruktur für Produktion, Begegnung und Sichtbarkeit bieten.
✅ Kooperation mit Verwaltung funktioniert – wenn der Rahmen stimmt
Bielefeld geht proaktiv vor: mit Budget (ca. 60.000 €/Jahr), Prozessbegleitung und politischem Rückhalt. Kultur wird als Teil der Stadtentwicklung verstanden, nicht als Beiwerk.
✅ Beteiligung wird ernst genommen
Keine fertigen Konzepte, sondern Wachstum im Tun: Wer sich einbringen will, kann das tun – und wird gehört.
✅ Verknüpfung mit Förderlogiken
Auch wenn Zwischennutzung nicht direkt förderfähig ist, kann sie Vorfeld und Legitimation für spätere Fördermaßnahmen (z. B. im Städtebau oder in Kreislaufprojekten) sein.
Und in Hessen?
Auch hier gibt es vergleichbare Flächen: Konversionsareale in Frankfurt-Höchst, Kassel, Bad Nauheim oder Friedberg, leerstehende Schulen, ehemalige Bürogebäude. Oft fehlen lediglich der Impuls – und eine Brücke zwischen Verwaltung und Kreativen.
Die Erfahrung aus Bielefeld macht Mut: Wenn Kultur und Kreative die Tür aufmachen, kann Stadt folgen. Und wenn Stadt die Rahmenbedingungen schafft, kann Kreatives darin aufblühen.
Fazit: Zwischennutzung ist Stadtgestaltung in Echtzeit
Rochdale Barracks steht beispielhaft für einen Wandel im Umgang mit Stadt und Raum. Hier entsteht kein „Kunstquartier von oben“, sondern ein offener Möglichkeitsraum, in dem Stadtgesellschaft und Kultur gemeinsam neue Modelle urbanen Zusammenlebens erproben.
Wer Kreativität als Zukunftslabor der Stadt denkt, findet hier nicht nur Inspiration, sondern auch praktische Hinweise, wie aus Fläche Kreativität und aus Zwischennutzung Stadt wird.
