Stadt als Möglichkeitsraum: Wie Gent mit temporärer Nutzung die Kultur- und Kreativszene stärkt
Wie kann eine Stadt Freiräume für Kultur schaffen, wenn Budgets schrumpfen und Flächen knapp sind? Die belgische Stadt Gent zeigt, wie es gehen kann: Temporäre Nutzung ist hier nicht bloß ein Lückenfüller, sondern ein strategisches Instrument der Stadtentwicklung – mit enormer Wirkung für Kreative, Initiativen und Stadtgesellschaft.
In Gent wird Zwischennutzung konsequent mit Beteiligung, Nachhaltigkeit und sozialer Innovation verknüpft – und genau das macht sie besonders relevant für Akteur*innen der Kultur- und Kreativwirtschaft.

Vom Leerstand zum kulturellen Labor
Der Weg begann 2007 – mit einem simplen, aber entscheidenden Schritt: Die Stadt gab eine Brachfläche im benachteiligten Viertel Rabot an die Nachbarschaft zurück. Die Menschen – viele aus der Türkei und Marokko – machten daraus einen Garten, organisierten Fußballturniere, Open-Air-Kino, Hühnerhaltung, Konzerte.
Aus einem kurzfristigen Experiment wurde ein zehnjähriges soziales Labor, das nicht nur eine Fläche belebte, sondern neue Netzwerke, Narrative und Nutzungsmodelle hervorbrachte.
✱ Lektion aus Gent: Zwischennutzung ist nicht nur Raum – sie ist Prozess, Plattform und Begegnung.
Dok Gent: Ein kreativer Möglichkeitsraum mit Strahlkraft
Ein zweites ikonisches Projekt ist Dok Gent – ein 6 Hektar großes ehemaliges Hafengelände, das 2011 zur temporären Spielwiese für Kultur, Musik, urbane Gärten, Gastronomie und Soziales wurde.
Konzipiert von einem Kollektiv aus Kulturschaffenden, Kreativschulen und Stadtverwaltung entwickelte sich Dok zu einem international beachteten Vorbild.
Tägliches Open-Air-Leben im Sommer
Ein Stadtstrand, der später dauerhaft eingeplant wurde
Künstlerresidenzen, Werkstätten, Theater, Märkte, Konzerte
Raum für „precarious practices“ – niedrigschwellige Formate, Soziokultur, urbane Experimente
💡 Viele Initiativen, die bei Dok starteten, sind heute fest in Gent verankert – etwa das Timelab, ein Makerspace mit Coworking und Community-Fokus, oder die Kopergietery, ein Theater für junges Publikum.
Förderung mit Substanz: Gent meint es ernst
Was Gent unterscheidet: Die Stadt hat Zwischennutzung nicht dem Zufall überlassen, sondern in Strukturen gegossen:
Ein jährlicher Fonds über 250.000 €, aus dem kreative Projekte Mittel für sicherheitsrelevante Umbauten beantragen können
25 Stadtteilmanager*innen, die als „Brückenbauer“ wirken – auch zwischen Verwaltung und Kulturakteur*innen
Eine interdisziplinäre Jury, in der Vertreter*innen von Kultur, Stadtentwicklung, Soziales und Sport gemeinsam Projekte auswählen
Offene Ausschreibungen und kontinuierlicher Dialog mit der Szene
Die Förderung konzentriert sich nicht auf Programmgestaltung, sondern auf Infrastrukturermöglichung – z. B. Brandschutz, Barrierefreiheit, temporäre Umbauten.
📌 Beispiel: Für ein leerstehendes Ärztehaus stellte die Stadt Infrastruktur bereit – die Community schuf daraus ein Zentrum für Yoga, Kunst und seelische Gesundheit.
Was Kreativakteur:innen besonders interessiert
1. Zugang zu Raum – auch ohne Hochglanzkonzept
Gent bietet niedrigschwellige Zugänge zu Flächen – auch für kleinere, selbstorganisierte Initiativen. „Wir fördern Experimente, keine fertigen Businesspläne“, sagt eine Stadtmitarbeiterin. Wichtig sei der soziale, kulturelle oder ökologische Mehrwert, nicht die institutionelle Größe.
2. Langfristige Wirkung durch temporäre Präsenz
Auch wenn die Nutzung zeitlich begrenzt ist, denkt Gent langfristig: Was aus Zwischennutzung entsteht, kann in dauerhafte Stadtentwicklung einfließen. Beispiel: Der temporäre Stadtstrand von Dok wurde später im neuen Bebauungsplan fest verankert.
3. Cross-Sector-Allianzen sind gewollt
Die Kultur- und Kreativszene ist in Gent Teil eines größeren Stadtexperiments, das Care-Arbeit, soziale Innovation, Bildung und Nachhaltigkeit mit Kultur verbindet. Künstler:innen arbeiten mit Sozialarbeiter:innen, Urbanisten mit DJs, Architekt:innen mit migrantischen Communities.
4. Verwaltung als Partner, nicht als Gegner
Das vielleicht Wichtigste: Die Stadt Gent hat verstanden, dass Verwaltung nicht Verhinderung bedeuten muss, sondern Ko-Kuration. Die Abteilung für Partizipation agiert horizontal, ressortübergreifend und mit Kulturkompetenz. Das schafft Vertrauen – und Verbindlichkeit.

Warum das für andere Städte relevant ist
Viele Städte in Europa kämpfen mit ähnlichen Herausforderungen: Leerstand, soziale Spaltung, Flächendruck, Sparzwänge. Gleichzeitig sucht die Kultur- und Kreativszene händeringend nach Raum – physisch wie ideell.
Gent zeigt, dass mit wenig Mitteln und viel Haltung ein Möglichkeitsraum entstehen kann, der weit über klassische Stadtplanung hinausgeht.
Fazit: Kultur braucht Raum – und Städte brauchen Kultur
Zwischennutzung ist in Gent nicht Notlösung, sondern Motor für Stadt im Wandel. Sie erlaubt nicht nur künstlerisches Experiment, sondern fördert soziale Bindung, ökonomische Innovation und neue städtische Allianzen.
Für Kulturakteur*innen bedeutet das: Engagiert euch, denkt quer, seid präsent. Städte wie Gent zeigen: Es lohnt sich – und Verwaltung kann dabei Verbündete sein.
„Temporary use gives oxygen to our city.“
– Stadt Gent